DAS BESTE URTEIL

DAS BESTE URTEIL

Letztendlich erfahren wir den Geschmack eines Weins erst, wenn wir ihn selber trinken und uns ein eigenes Bild machen

Werden ihre Gaumen sensibler und ihre Urteile sicherer, wenn die gleichen Profis über Jahre hinweg zusammenarbeiten und Weine auf ihre vermeintliche Güte prüfen? Vermutlich eher nicht. Ihre Urteile werden sich mit der Zeit aber angleichen. Ein einheitliches Urteil erweckt den Anschein geballter Fachkompetenz. Individuelle Wahrnehmungen der Verkoster sind nun aber nicht gleichsam zu einem unfehlbaren Sensorik-Apparat verschmolzen, sondern haben sich lediglich in gleicher Umgebung niedergelassen, wo man eine Sprache spricht: sich kennt, versteht, einrichtet. Ein einheitlich eingerichtetes Urteil ist nun aber nicht exakter geworden.

Ein einheitliches Urteil ist nicht exakter

Wie wackelig es tatsächlich ist, wird deutlich, wenn nun ein neuer Verkoster zu einer etablierten Gruppe stößt. Wenn er weder die Umgebung kennt, noch deren Weinsprache spricht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass seine Urteile von denen der anderen stark abweichen, obwohl er über vergleichbare Kenntnisse verfügt. Ob seine Urteile exakter sind, ist wieder nicht zu sagen, da ihnen Erfahrungen vorausgingen, die ihn prägten und für seine Urteile mitverantwortlich sind. Über den Wein an sich machen sie keine Aussage, über seinen Verkoster aber sehr wohl. Und es steht zu vermuten, dass die neue Umgebung sein Urteilsvermögen abermals verändert; seine Stimmung auf die eine oder andere Weise beeinflusst.

Erfahrungen verantworten Urteile

Grob gesagt, sieht sich der Neuling nun mit zwei Möglichkeiten konfrontiert: Entweder beginnt er, seine Urteile rasch im Sinne der Gruppe abzuwägen und anzupassen, oder er bleibt seinem Standpunkt treu. Respektiert und akzeptiert die Gruppe diesen, entsteht gelegentlich auch etwas Neues. Eine Wahrnehmung aus einem anderen Blickwinkel kann zuweilen völlig neue Perspektiven eröffnen und zu überraschenden Erkenntnissen führen, die wiederum aus diversen Gründen leider nicht immer erwünscht sind – und die abweichende Wahrnehmung des Neulings dann flugs auch nicht mehr. Wird sie jedoch nicht nur in Kauf, sondern auch ernst genommen, kann das Bild, das man sich von einem Wein macht, an Komplexität gewinnen.

Bevor ein Wein nicht getrunken ist, hat er keinen Geschmack

Allumfassend werden wir einen Wein nie beurteilen können, auch wenn uns dies die eine oder andere Instanz weismachen will: Das ist im Grunde dann Geschmacktotalitarismus. Bevor ein Wein nämlich nicht getrunken ist, hat er gar keinen Geschmack. Da mögen Verkostungsnotizen und Punkte Appetit auf ihn machen oder seinen Genuss überdenken lassen. Durchaus vergnüglich, wenn sich ein schwach beurteilter Wein auf unserem Gaumen dann zu einer Delikatesse verwandelt. Zuweilen ärgerlich, wenn sich der hochgejubelte (und zuweilen überteuerte) Aromaüberflieger als organoleptischer Tiefflieger entpuppt.

Je subjektiver die Urteile über einen Wein desto objektiver sind sie

Letztendlich erfahren wir den Geschmack eines Weins erst, wenn wir ihn selber trinken und uns ein eigenes Bild machen. Dabei spielt es zunächst einmal überhaupt keine Rolle, wie wir das tun, wichtig ist, dass wir es tun. Das ist dann Geschmackssouveränität. Als Vorschläge haben Urteile durchaus ihre Berechtigung. Als Ausweis höchster Expertise sind sie fragwürdig, als objektive Aussage über Geschmack aussichtslos. Begreift man Objektivität (auch) beim Wein als eine Art ökumenischen Wahrnehmungsprozess, kann die nur aus ihren unendlich vielen subjektiven Bausteinen bestehen. Was zu der süffig-provokanten These führt: Je subjektiver die Urteile über einen Wein ausfallen, desto objektiver sind sie. Das ist dann Geschmacksaltruismus.

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