AUSZEIT AUS DER ZEITSCHLEIFE
Ob Liebfraumilch und Herz am rechten Fleck oder Orange-Weine von einem Zweifler. Kirchheims Winzer brechen mit dem Gewohnten
Wo ein kurzer Strom bei Worms in den Rhein verduftet und am nördlichen Rand der Deutschen Weinstraße weiter als Eckbach fließt, durchquert er Kirchheim. An die rund 3000 schwitzenden Leiber, die alle zwei Jahre das Dorf überrennen, hat man sich lange gewöhnt und reicht ihnen in heimischen Riesling getränkte Schwämmchen zur Erfrischung. Wer beim »Marathon Deutsche Weinstraße« die Pfalz abläuft, kommt am Riesling nicht vorbei und wird an der legendären Verpflegungsstation in Kallstadt brutal-lokal mit Original Pfälzer Saumagen versorgt. 2018 steht der deftige Lauf wieder an. Sportsfreunden, die beim Laufen Rotwein bevorzugen, sei die 42 Kilometer lange Weinprobe beim Médoc-Marathon empfohlen, wo in Pauillac die Kelche mit Latour und Mouton-Rothschild gefüllt werden.
Ausreißer nach unten sind da nicht zu erwarten, echte Überraschungen aber auch nicht. Die erlebt man in letzter Zeit viel öfter in der Pfalz. Wo das Leben seinen geruhsamen Lauf nimmt, verlässt im beschaulichen Kirchheim der ein oder andere Winzer immer öfter seine gewohnte Zeitschleife – und spielt mit ihren Möglichkeiten. Bill Murray als frustrierter Reporter Phil Connors gelang das in der US-Komödie »Und täglich grüßt das Murmeltier« ja auch schon sehr gut. Als er den Tag schließlich aus dem Effeff kannte, begann er ihn neu zu gestalten. In Kirchheim haben jetzt zwei Winzer diese Möglichkeit auf ihre Art und Weise für sich entdeckt. Für ein Dorf mit knapp 2000 Einwohnern und Harald Glöckler ist das eine gigantische Quote.
Wer beim »Marathon Deutsche Weinstraße« die Pfalz abläuft, durchquert etliche Dörfer und kommt am Riesling nicht nur ständig vorbei, sondern auch fortlaufend als Erfrischung spendiert. Als anfangs etwas hinterlistige Darreichungsform haben sich die in Riesling getränkten Schwämmchen mittlerweile etabliert. Die hiesigen Winzer geben sich gönnerisch. Verdurstet ist bei diesem Lauf noch keiner.
Der Landflüchtling Hammel bleibt seiner Heimat treu und empört sich über die »herzlose Massenproduktion«, die man in der Vergangenheit der Liebfraumilch angetan habe. Seitdem ist die Renaissance in vollem Gange. Dafür sorgt allein schon das Etikett von Hammels Liebfraumilch: Dürers Madonna hat er einen roten Stern aufs Auge verpasst. Revolution!
Christoph Hammel ist so ein Aussteiger. Mit herzhaftem Dialekt und Herz am rechten Fleck verkörpert er das Bild vom Pfälzer Winzer geradezu archetypisch, probiert sich in vielen Szenarien aus und bleibt sich dabei treu: Das provokante Etikett seiner Liebfrauenmilch etwa hat sich in den sozialen Netzwerken nicht nur rasant verbreitet, auch der Wein erhielt durchweg Lob. Hammel ist Landflüchtling und bleibt seiner Heimat dennoch mit Haut und Haar treu. Weil er ihre Geschichte so genau kennt, kann er sie selbstbewusst variieren. Selbstverständlich ist das nicht. In Kirchheim am nördlichen Rand der Deutschen Weinstraße schon gar nicht. Seltsam apallisch wirken hierzulande viel zu viele Weinorte, wenn sie am Ortseingang mit vielen hundert Jahren Weinbautradition werben und an irgendeinem Tag in den achtziger Jahren hängengeblieben sind, sobald man das erste Weingut, das erste Wirtshaus betritt: Schnitzel XXL mit Pommes und milder Müller-Thurgau. Wo Stillstand herrscht, sterben auch Traditionen, werden zur Farce. Kirchheim bewirbt sich auf seiner Homepage als »Gemeinde mit Schwung«, womit sicher auch ihre Winzer zu tun haben. Neben Christoph Hammel büxte zuletzt Volker Benzinger immer häufiger aus der Zeitschleife aus.
Benzinger hat den elterlichen Betrieb in den letzten 30 Jahren zu einem zuverlässigen Weingut mit treuer Stammkundschaft geführt, die regelmäßig auf seinen Hof gefahren kam und sich ihren Weinvorrat für das nächste halbe Jahr in den Kofferraum lud. Auf Benzingers Weine war Verlass. Und auf ihre Preise. Diese Zeitschleife hätte ihm auch weiterhin ein sicheres Auskommen gesichert. Doch wie lange noch, wenn die Zeit der Kofferraumvolllader irgendwann ganz vorbei ist, weil sich verlässliche Weinqualitäten heutzutage auch im Discounter nebenan finden lassen? Und die haben sich längst auch in der Peripherie niedergelassen. Gegen sie anzukämpfen, ist zwecklos.
Hängengeblieben in der Zeitschleife, das ist schon vielen passiert. Die meisten haben es nicht einmal gemerkt. Seltsam apallisch wirken solche Orte dann, wo am Ortseingang salbungsvoll mit Weinbautraditionen geworben und im Gasthaus Schnitzel XXL mit Pommes nebst mildem Müller-Thurgau serviert werden.
Benzinger ist ein penibler Winzer, deshalb sind seine Orange-Weine so ungewöhnlich. Auch er hält 1200 Jahre Weinkultur in Kirchheim in Schwung.
In der Zeitschleife zu erstarren, bedeutet den schleichenden Niedergang. Sich neu zu erfinden, ist eine Möglichkeit. Christoph Hammel hält sich damit in Schwung, sein Weingut, die ganze Gemeinde. Auch Volker Benzinger sorgt dafür, dass rund 1200 Jahre Weinkultur in Kirchheim in Schwung bleiben. Der Betrieb befindet sich momentan in der Umstellung auf eine biologische Bewirtschaftung. Mit dem Jahrgang 2015 versuchte er sich zum zweiten Mal an der Kategorie Orange-Wein. Am Ende wurden es vier, deren gemeinsamer Nenner ihr wunderbar feinwürziger Trinkfluss ist. Maischevergorene, naturtrübe Weißweine aus Silvaner und/oder Weißburgunder, die sich natürlich von ihren klassisch bereiteten Kollegen unterscheiden, aber dennoch aromatisch so klar und appetitlich daherkommen, dass es die helle Freude ist.
Im Kontext dieser oft exaltierten Weine wirken Benzingers Orangene geradezu verschlossen, was durchaus kein Mangel ist. Im Gegenteil: Bei aller Würze, feinen Gerbstoffen und hefiger Textur sind die Flaschen erstaunlich schnell geleert. Benzinger ist ein penibler Winzer, und diese Genauigkeit schmeckt man seinen Orange-Weinen an. Deshalb steckt auch in Benzinger etwas von dem Reporter Phil Connors in »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Weil Benzinger mit seinem Wissen, seiner Erfahrung mit dem Heute spielt und sich ausprobiert. Das ist gelebte Tradition. Während der Eckbach bei Worms in den Rhein verduftet und am nördlichen Rand der Deutschen Weinstraße noch immer Kirchheim durchquert, wären 2018 dann Kelche statt Schwämmchen als Erfrischung für die Marathon-Läufer der nächste logische Schritt.