BEKANNTER UNBEKANNTER

BEKANNTER UNBEKANNTER

Chardonnay ist für die meisten Menschen nichts weiter als ein Synonym für Wein, für etwas weniger als die meisten eines für Weißwein.

 

Zu den weltweit bekanntesten Weinen zählt der Chardonnay. Möglich, dass er sogar der bekannteste, ganz sicher aber zugleich der unbekannteste ist. Was sich paradox anhört, lässt sich nicht so leicht erklären. Chardonnay ist für die meisten Menschen nichts weiter als ein Synonym für Wein, für etwas weniger als die meisten eines für Weißwein. »Tempo« und Taschentuch sind hierzulande zu einem Begriff verschmolzen, der mit unterschiedlichen Worten das Gleiche meint, obwohl keine semantischen Gemeinsamkeiten bestehen. Den Namen »Tempo« erfand in den zwanziger Jahren der jüdische Papierwerkinhaber Oskar Rosenfelder. »Tempo« entsprach dem wuseligen Zeitgeist und kam schnell gut an.

Der Grundstein für seine Verselbständigung war gelegt. Rosenfelder wurde später von den Nazis enteignet, konnte den Schergen aber noch rechtzeitig entkommen. Auch sein »Tempo« überstand das Regime und setzte seinen Siegeszug nach Kriegsende fort. Nach seiner Einführung 1929 wurde der »Tempo«-Schriftzug nur einmal und auch nur leicht verändert. So hat es »Tempo« zum Taschentuch gebracht. Eine ähnliche, wenngleich noch nicht ganz so langwährende Verselbstständigung geschah mit dem Chardonnay, der ab den achtziger Jahren von der amerikanischen Film- und Fernsehindustrie gleichsam monopolisiert wurde.

So oder so. Wenn jemand sagte: »Mach uns doch mal einen Chardonnay auf«, verstand bald jeder, dass es sich dabei um einen Wein, einen Weißwein handelt. Ok, der auf dem Bild ist rot, aber egal. Manche kapieren es eben nie.

 

Kein Actionfilm, keine Serie, keine Schnulze, kein Drama, keine Soap: Immer wenn es Weißwein gab, floss beredt Chardonnay in die Kelche der Darsteller. So kam der Wein erst in der eigenen Bevölkerung und später in der ganzen Welt an. Chardonnay war in Allermunde. So oder so. Wenn jemand sagte: »Mach uns doch mal einen Chardonnay auf«, verstand bald jeder, dass es sich dabei um einen Wein, einen Weißwein handelt. Was sich damals beim »Tempo« noch durch Nase-zu-Nase-Propaganda verbreiten musste, übernahmen beim Chardonnay die modernen Medien, die seinen Bekanntheitsgrad in rasanter Geschwindigkeit steigen ließen. So hat es der Chardonnay zu einer erfolgreichen Marke gebracht. Und man fragt sich, ob das so gut für ihn war.

Wo Eigenschaften und Material eines »Tempo« überschaubar bleiben, verstehen die meisten unter einem Chardonnay nicht mehr als einen Weißwein, den man bestenfalls kühlt, bevor man ihn vorzugsweise aus sogenannten Weingläsern trinkt. Wo letztere nicht verfügbar sind, tut man sie eben als überflüssigen Nippes ab, schüttet ihn in die nächstgelegenen Gefäße und rasch in sich hinein. Dass der Chardonnay anders als »Tempo« nicht der Name einer Marke, sondern seit dem 17. Jahrhundert die Bezeichnung für eine vermutlich aus dem Burgund stammende Rebsorte ist, dürfte viele Menschen verblüffen. Ob die Sorte von Natur aus so anpassungsfähig ist, dass sie heute in fast allen Weinanbaugebieten der Welt kultiviert wird, oder, ob man sie mit allen Mitteln der Chemie und Gentechnik an ein bestimmtes Klima angepasst hat, um eine Schnitte vom Erfolg abzubekommen, gleicht der Frage, ob es das Ei oder das Huhn war, das zuerst da war. So steckt in vielen Chardonnays auch ein Weltenbürger wider Willen. Davon ahnt aber nur derjenige etwas, der sich schon einmal Gedanken um seinen eigenen Geschmack gemacht hat.

Würde man alle Menschen, die kürzlich einen Chardonnay zum Essen getrunken haben, nach seinem Geschmack fragen, hätten viele noch eine Erinnerung vom Essen, während der Weingeschmack keine Attosekunde in ihren Hirnen verbrachte.

Dabei gilt die Faustregel: Süße belohnt, der Rest irritiert. Chardonnays mit Vanillearoma und leicht süßlichem Geschmack wurden zum weltweiten Renner.

Doch ihr weltweiter Erfolg hat auch mir der Amnesie ihrer Trinker zu tun. Weshalb man trendige Agenturen engagiert, um den mehr oder weniger nicht vorhandenen Geschmack weiter zu kultivieren. Dabei gilt die Faustregel: Süße belohnt, der Rest irritiert. Chardonnays mit Vanillearoma und leicht süßlichem Geschmack wurden zum weltweiten Renner. Weil die Idee für »Tempo« dem Zeitgeist der zwanziger Jahre entsprach, wurde sie zum Erfolg. Heute speist sich der Geist nicht mehr aus seiner Zeit, sondern wird von den Agenturen gleich selbst fabriziert. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum man dieser Tage oft den Eindruck hat, dass sich der Zeitgeist ständig verändert. Er tut es schon lange nicht mehr. Am ehesten trifft man ihn noch an Orten, von denen man sagt, hier sei die Zeit stehengeblieben. Auf der Suche nach dem ursprünglichen Geschmack eines Chardonnays kommt man ihm nämlich genau dort näher. Je öfter an einem Ort aber über ihn gesprochen wird, desto orientierungsloser irrt er umher.

Den Geschmack bestimmt er schon längst nicht mehr. Und so steht zu vermuten, dass der feinste Chardonnay den meisten Menschen heute ein Graus am Gaumen sein würde. Allein, weil sie plötzlich etwas schmecken. Beim Chardonnay hat die Zeitgeistindustrie ganze Arbeit geleistet, ihm erst seinen Geschmack ausgetrieben und den dann auf der ganzen Welt etabliert. Weil es so viel Wichtigeres im Leben gibt, muss man sich nicht auch noch um den kümmern, suggeriert uns die Werbung mit Floskeln à la »unbeschwerter Genuss«. Und macht uns gegenüber Unbekanntem damit immer intoleranter. Populistisches und nationalistisches Gedankengut hat immer auch mit Geschmacklosigkeit zu tun. Wo sich beim »Tempo« eine gute Idee schließlich als Allgemeingut verselbstständigte, beutete man den Chardonnay bis zur Unkenntlichkeit aus.

Soweit das simple Geheimnis seines weltweiten Erfolges. In seiner Heimat Burgund, wo die Expertise seiner Bereitung über Generationen weitergegeben wurde, sich eine Geschmackskultur entwickeln und verfeinern konnte, entstehen die gesuchtesten Exemplare. Weil sie so rar und teuer sind, werden sie dem viel größeren Rest der Chardonnay-Welt immer verborgen bleiben. Wer sie sich leisten kann, schüttet die köstlichen Tropfen meist auch nicht in sich hinein, sondern verschließt sie als Wertanlage in irgendwelchen totsicheren Safes oder vermischt sie mit einer Limonade, damit er sie am Ende doch irgendwie mag. Perfide meint der eine, klug der andere. Die Strategie scheint jedenfalls aufzugehen: Der Chardonnay wird auch in Zukunft zugleich der bekannteste und der unbekannteste Wein auf unserem Planeten bleiben.

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