DIE WEIN
Wein bildet man aus. Da geht es nicht an, dass er etwas aus sich selbst heraus macht. Man macht Wein. Und die Schule ist Pflicht. Der Wein ist ein Schüler
Wein ist empfindlich. Man muss sich um ihn kümmern. Wein kommt nicht als Wein zur Welt. Man muss ihn erziehen. Wenn er hereingeholt wird in die Welt – manchmal früh, ein anderes Mal eher spät –, ist er sehr verletzbar. Er ist fragil, und die Welt, in die man ihn holt, ist neu und fremd für ihn. Man muss ihn daran gewöhnen. Denn da, wo er herkommt, gibt es keine Erziehung. Man muss ihn beruhigen. Und da er noch lange keiner ist – kein Wein –, hat man sich einen Vor-Namen für ihn ausgedacht. Es ist kein Kosename, denn der junge Wein ist nicht niedlich. Auf den derben Namen Most soll er erst einmal hören, weil er noch so ungehobelt und roh ist, so ungeschliffen und wild. So lange, bis ihm seine Flausen ausgetrieben worden sind. Und das kann mitunter lange dauern.
Man legt ihn in ein Bett aus Holz oder Stahl. Wein ist empfindlich, ich sagte das schon, ein Hypochonder sozusagen. Man muss auf ihn aufpassen. Sein Bett muss sauber sein, penibel sauber. Bevor er also auf die Welt kommt, muss man sein Bett machen. Es kann warm oder kalt sein, holzig oder stahlig, einladend oder abwehrend – um das Bettmachen kommt man nicht herum. Von Männern hat man gehört, die den lieben langen Tag nichts anderes getan haben, als seine Betten zu machen. So lange, bis sie darüber ganz irr im Kopf geworden sind. So irr, dass sie anfingen Bier zu trinken, viel Bier.
Heute schickt man den Wein auf Schulen
Wein ist beeinflussbar, gerade wenn er jung ist. Da ist er neugierig und schaut sich um. Und findet er etwas, egal wie klein oder unbedeutend es auch sein mag, so nimmt er es begierig auf. Denn er weiß nicht, was aus ihm werden soll. Wein hat kein Bewusstsein. Wein lässt sich treiben. Es ist schon lange her, da dachte man, dass sich der Wein wie von selbst macht. Autopetisch, sagen Biologen heute dazu. Damals war es ein Wunder, ein Weingeist. Das ist lange her. Heute schickt man den Wein auf Schulen und auf höhere Schulen. Wein bildet man aus. Da geht es nicht an, dass er etwas aus sich selbst heraus macht. Das geht nicht an. Keinesfalls. Man macht Wein.
Und die Schule ist Pflicht, und der Wein ist ein Schüler. Und der Wein hat gefälligst zu tun, was der Lehrer ihm sagt – ohne Klagen. Aber nicht jeder Wein ist gleich, auch wenn man es versucht, und die Schule immer dieselbe ist. Der Wein ist es nicht. Manche tun partout nicht, was man ihnen sagt. Der Wein kann eine Zicke sein, eine Diva. Eigentlich ist er zutiefst weiblich, weshalb ihn Männer so lieben. Und das Wein-Machen ist so eine hocherotische Angelegenheit. Nicht nur, da sie ständig in seine Betten steigen. Nein, auch die Art, wie sie mit ihm reden, ist immer irgendwo zwischen zärtlich und brutal. Die Frauen wissen davon.
Dem Problem mit der Zeit ist man beigekommen
So streicheln sie hier sanft über seine kleinen französischen Eichenbetten, säuseln ihm zu und kosten von ihm, bevor sie dort einen anderen aus seinem kalten Stahl routiniert abstechen. Die Männer wissen davon. Es sollen die Anmutigen sein, die Schönen, die, mit denen man eine lange Zeit leben kann, denen die kleinen handgefertigten Betten vorbehalten sind. Dort sollen sie die Zeit bekommen, die sie brauchen, um sich zu entwickeln. Bequem sollen sie es haben. Nicht zu kalt und nicht zu warm soll es sein. Privilegiert sind sie und elitär werden sie, weil sie dazu gemacht werden. Denn Wein, das sagte ich schon, hat kein Bewusstsein. Von Zeiten hört man, und es soll sie auch heute noch geben, da hatte man fast nichts anderes zu tun, als den Wein in aller Ruhe zu lassen. Bis er über die Zeit klar geworden ist.
Die Schulzeit wurde deutlich verkürzt
Das brauchte Zeit, viel Zeit, viel mehr als es heute noch gibt. Von verrückten Männern und Frauen berichtet man, die sich auch heute noch diese Zeit irgendwoher stehlen, obwohl sie längst verschwunden ist. Und deshalb sagt man ihnen nach, sie seien verrückt, obwohl sie alles andere als irr im Kopf sind. Dem Problem mit der Zeit ist man beigekommen. Die Schulzeit wurde deutlich verkürzt. Man hat sich große Maschinen und kleine Medikamente ausgedacht, die das Wissen der Welt in kürzester Zeit in den Wein prügeln. So rast er jetzt vom Most zum Wein in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. So schnell, dass ihm ganz schwindelig davon wird. Steht dann plötzlich in der Welt. Und alle bewundern ihn, finden ihn von der Stelle weg anmutig und kraftvoll zugleich. Und das vom ersten Tage an. Das ist schwer zu verkraften und langweilig – sehr langweilig.
Manchmal langweilt sich der Wein einige Jahre in irgendwelchen Kellern fast zu Tode. Solange, bis man einen oder zwei von ihnen heraufholt, öffnet, riecht, schmeckt und sagt: »Verdammt langweilig« oder und vielleicht schlimmer noch: »So gut wie tot.«