NEOKLASSIK AM RHEIN
In keiner anderen deutschen Weinbauregion ist die Dichte klassifizierter Weinlagen größer als im Rheingau, keine andere Region musste in der Vergangenheit mehr Kritik für ihre Weine einstecken. Nun hat ein Umbruch eingesetzt.
Zu süß, zu uniform, schlicht einfallslos hieß es eine lange Zeit über die Rieslinge aus dem Rheingau. Wenn der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) Ende August die besten trockenen Weiß- und Rotweine seiner Mitglieder einer handverlesenen Schar Journalisten und Händler vorstellte, musste der Rheingau lange Zeit als Prügelknabe herhalten. Zu Recht und zu Unrecht. Jedenfalls wurde die Kritik an seinen Weinen dabei fast zur Gewohnheit. In letzter Zeit ist es still um die Kritiker geworden, viel öfter ist nun von aufregenden Weinen zu hören, von Winzern, die sich von ihren selbstauferlegten Konventionen emanzipiert haben und neue Wege gehen, obschon die oft auf vergessenen Fährten liegen.
Was keineswegs bedeutet, dass die Lichter der großen Leuchttürme in dieser 3.100 Hektar kleinen Region erloschen sind. Im Gegenteil. Mit Wilhelm Weil steht ein Mann an der Spitze des VDP-Regionalverbands, der wie kein zweiter das Bild des Rheingaus in der Welt geprägt hat. Die Flaschen des Weinguts Robert Weil mit ihren himmelblauen Kapseln zählen zu den großen Klassikern in der Welt des Rieslings. Weils weltoffener Umgang mit Wein führte aber ebenso dazu, dass man sich gegenüber alternativen Methoden in Weinberg und Keller zusehends toleranter und offener zeigte. Das Wein-machen, sagt Weil, sei früher doch viel mehr ein Machen-lassen gewesen, sein Ergebnis viel weniger planbar. Sein Freund und Mitstreiter Dirk Würtz ist Betriebsleiter beim Weingut Balthasar Ress und trägt diesbezüglich schon lange Siebenmeilenstiefel. Da nimmt es nicht wunder, wenn immer häufiger auch spontan- und/oder maischevergorene Weine, manche ohne Schwefelzusatz, von der Fachwelt goutiert und nicht a priori verrissen werden.
Das Wein-machen, sagt Weil, sei früher doch viel mehr ein Machen-lassen gewesen, sein Ergebnis viel weniger planbar.
Foto Weingut Robert Weil
Sein Freund und Mitstreiter Dirk Würtz ist Betriebsleiter beim Weingut Balthasar Ress und trägt diesbezüglich schon lange Siebenmeilenstiefel.
Foto Dirk Würtz
Ein Umschwung hat eingesetzt. Und der war auch dringend nötig geworden, denn der Rheingau drohte aus lauter Selbstgefälligkeit in belanglosem Wein unterzugehen. Weil die Region reich an Weinhistorie und inmitten einer Metropolregion gelegen ist, wäre das sicher auch noch eine Zeitlang gutgegangen. Doch der bisweilen als konservativ verschriene Stil der Rheingauer Weine hat mittlerweile ernsthafte Konkurrenz bekommen. Und das ist eine erfreuliche Tatsache. Andererseits gibt es aber auch keinen Grund, die altbewährte Formel aus stahliger Säure und saftiger Frucht nebst einer Portion Restsüße nun rundweg zu verteufeln. Sie wird ein wichtiges Wiedererkennungsmerkmal der Weine bleiben.
Wenn sie zudem von einem Schweizer in eigener, penibler Manier umgesetzt wird, kann man sogar von einer neuen Benchmark für einen zuweilen etwas in die Jahre gekommenen Weingeschmack sprechen. Der aus Sankt Gallen stammende Urban Kaufmann und seine Lebensgefährtin Eva Raps ruhen sich jedenfalls nicht auf den Lorbeeren ihres Vorbesitzers Hans Lang aus, sondern sind ehrgeizig genug, ihren eigenen Stil in Hattenheim zu finden und weiter zu verfeinern. Ihre Rieslinge aus 2016 und der 2015er Pinot aus der Hattenheimer Hassel markieren einen zwischenzeitlichen Höhepunkt ihrer noch jungen Karriere als Quereinsteiger. Ihren Stil scheinen sie inzwischen gefunden zu haben.
Der aus Sankt Gallen stammende Urban Kaufmann und seine Lebensgefährtin Eva Raps ruhen sich jedenfalls nicht auf den Lorbeeren ihres Vorbesitzers Hans Lang aus, sondern sind ehrgeizig genug, ihren eigenen Stil in Hattenheim zu finden und weiter zu verfeinern.
Bibos neu gewonnener Spaß an der Arbeit hält nun auch länger an, weil sich seine Weine weit bis ins nächste Jahr auf der Vollhefe entwickeln dürfen, und erst dann gefüllt werden, wenn sie reif dafür sind.
Foto Bibo Runge
Ein alter Hase hingegen ist Walter Bibo, der 2013 zusammen mit seinem damaligen Partner Kai Runge das Boutique-Weingut Bibo & Runge gründete, »um endlich wieder Spaß am Weinmachen zu haben«, wie Bibo selbst sagt, der als Kellermeister bereits für die Weine vieler renommierter Weingüter verantwortlich zeichnete. Sein neu gewonnener Spaß an der Arbeit hält nun auch länger an, weil sich ihre Weine weit bis ins nächste Jahr auf der Vollhefe entwickeln dürfen, und erst dann gefüllt werden, wenn die beiden der Meinung sind, dass sie reif dafür sind. Dass man sich mit der Veröffentlichung der Grand Cru-Weine immer weniger nach den Erscheinungsterminen bestimmter Publikationen, sondern nach der Reife des jeweiligen Weines richtet, ist ein Trend, der sich in der gesamten Region, eigentlich in ganz Wein-Deutschland, beobachten lässt. Vom Wirtschaftswunder führt der Weg nun in jene Zeit zurück, als der Rheingau Riesling zu den weltweit gesuchtesten Weinen gehörte. Dabei lässt sich die Zeit freilich nicht zurückdrehen. Das soll sie auch gar nicht, macht aber deutlich, dass ein neues Selbst- und Qualitätsbewusstsein bei den Rheingauer Winzern Einzug gehalten hat.
Solch willkommene Varianz geht an den Weinen freilich nicht spurlos vorbei. Sollte es jemals möglich gewesen sein, eine bestimmte Lage zweifelsfrei in einem Riesling herauszuschmecken, gerät das heute weit öfter zu einem heiteren Unterfangen mit mäßigen Erfolgsaussichten. Die Güte der Weine schmälert das aber nicht, wenn die sich nun häufiger an der Handschrift des Winzers als am Geschmack des Weinberges ablesen lässt. Letztendlich dürfte Individualität dem Rheingau ohnehin guttun, wo rund ein Drittel der gesamten Fläche als klassifiziertes Terroir ausgewiesen ist. In keiner anderen Region geht es diesbezüglich enger zu, dass sich da auch die Weine aromatisch nähergekommen sind, ist eigentlich nur eine logische Konsequenz.
Vom Wirtschaftswunder führt der Weg nun in jene Zeit zurück, als der Rheingau Riesling zu den weltweit gesuchtesten Weinen gehörte.
Neben den alteingesessenen VDP-Weingütern beteiligen sich freilich auch Nichtmitglieder an der Neuinterpretation ihrer Weine aus den Rheingauer Weinbergen zwischen dem Rhein im Süden und den Taunusausläufern im Norden. Bedenkt man die grandiosen Kollektionen, die das Weingut Dr. Corvers-Kauter nun schon seit einigen Jahren präsentiert, geht es bei Matthias und Brigitte Corvers doch vergleichsweise ruhig zu. Dabei legen sie in jedem Jahr eine ordentliche Schippe drauf, überzeugen sowohl mit ihren trockenen und edelsüßen Rieslingen als auch mit prächtigen Spätburgundern aus dem Assmannshäuser Höllenberg oder dem Rüdesheimer Drachenfels. Vielleicht weil die Corvers von jeglicher Vereinsmeierei unbehelligt blieben, konnten sie an ihren Ideen vom Rheingauer Wein in den letzten Jahren ebenso gelassen wie selbstbewusst feilen. Wie dem auch sei. Es ist ein Glück, dass der Funke nun endlich übergesprungen zu sein scheint. Und wen stören da noch ein paar Gramm Restzucker mehr oder weniger, bitte.
überarbeitete Fassung aus falstaff Weinguide 2018