»MAN KOMMT NICHT HERAUS AUS DEM DILEMMA«

© Foto Jörg Sarbach

»MAN KOMMT NICHT HERAUS AUS DEM DILEMMA«

Kann man einen Wein objektiv beurteilen? Und wie macht man das am besten? Ein Gespräch mit dem Bremer Neurobiologen und Philosophen Gerhard Roth


Herr Professor Roth, »In Vino veritas«, ist da etwas Wahres dran?

Ja, in zweifacher Hinsicht! Erstens neigen Menschen unter stärkerem Einfluss des Weines dazu, ihre Meinungen unverfälschter zu äußern, weil die Zunge sich lockert. Zweitens glaubte man von der Antike bis weit in die Neuzeit, dass der Weingeist als etwas Feinstoffliches mit dem menschlichen Geist verwandt sei. Deshalb nannte man im Lateinischen beides Spiritus, was übersetzt Geist bedeutet. Seither prostet man sich zu, weil man damit vermeintlich den eigenen Geist an andere Personen weitergibt.

Was heißt denn in diesem Zusammenhang Wahrheit oder Objektivität?

Eine vom menschlichen Wahrnehmen und Denken unabhängige Wahrheit kann es nicht geben. Objektivität und Wahrheit bedeuten, dass Menschen unter bestimmten standardisierten Bedingungen, die man wissenschaftlich, intersubjektiv oder objektiv nennt, zu denselben Schlüssen und Einsichten kommen. Man versucht dabei, so gut es geht, private Vorurteile und Erfahrungen auszumitteln.

Eine Methode der Ausmittlung ist die gängige Blindprobe. Geraten die Beurteilungen tatsächlich objektiver, wenn die Weine vom Verkoster blind probiert werden?

Ja. Man vermeidet so, dass Vorurteile und Vorerwartungen das Urteil verzerren. Deren Wirkung geht ja manchmal bis ins Groteske.

Je weniger ich im Vorfeld über einen Wein weiß, desto objektiver bin ich also in der Lage, ihn zu beurteilen?

Das stimmt nicht unbedingt. Wenn es sich um fundierte, im zuvor angedeuteten Sinne intersubjektive Informationen handelt, kann man besser urteilen. Allerdings können zu viele solcher Informationen auch verwirrend sein.

Uns beeinflusst das, was wir kennen, und das, was wir nicht kennen. Zumindest dann, wenn wir über das Bewusstsein verfügen, dass wir in bestimmter Hinsicht Ignoranten sind.Gerhard Roth

Sind wir also ebenso beeinflusst, von dem was wir nicht kennen?

Uns beeinflusst das, was wir kennen, und das, was wir nicht kennen. Zumindest dann, wenn wir über das Bewusstsein verfügen, dass wir in bestimmter Hinsicht Ignoranten sind.

Was ist denn nun aus Ihrer Sicht sinnvoller, Weine blind oder offen zu verkosten und zu beurteilen?

Eine Blindverkostung ist sicherlich objektiver. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es sich um Weinexperten handelt, die über eine sehr differenzierte Geschmacks-Geruch-Sensorik verfügen und keine ausgeprägten Vorurteile haben. Was sich ja feststellen lässt. Schließlich wissen wir, dass allein schon die Kenntnis des Preises oder der Berühmtheit der Herkunft auch das Urteil eines Fachmanns grotesk verzerren kann.

Andererseits war deutscher Wein noch nie origineller und individueller als heute, trägt man diesem Umstand als Verkoster nicht besser Rechnung, wenn Ross und Reiter bekannt sind?

Am verlässlichsten ist das Urteil, wenn es sich um wirkliche Experten handelt, die also eine umfassende Vorerfahrung besitzen. Auch sind Vorinformationen durchaus positiv, damit das Urteil nicht ganz in die Irre geht. Es muss aber gewährleistet sein, dass die Verkoster keine Vorurteile in positiver oder negativer Richtung haben, in Abhängigkeiten stehen oder sich mit ihrem Urteil Vorteile verschaffen. Man kommt in keinem Fall wirklich vollständig aus dem Dilemma der notwendigen Vorerfahrung und des fast unvermeidlichen Vorurteils heraus.

Sie sagen, dass Aussagen nur in einem bestimmten Bedeutungszusammenhang, in den die verwendeten Begriffe einen eindeutigen Sinn haben, wahrheitsfähig sein können. Wie sieht das bei Weinbeurteilungen aus?

Weinbeurteilungen können wahrheitsfähig respektive intersubjektiv sein, wenn nämlich ein Urteil von individuellen Vorurteilen möglichst befreit wird und die Sensorik des Weinexperten über eine Standardisierung als voll entwickelt angesehen werden kann. Es bleiben aber immer Menschen, die einen Wein verkosten, aber man kann die individuellen Abweichungen möglichst minimieren.

Wir brauchen also auf Weinbeurteilungen nicht grundsätzlich zu verzichten?

Überhaupt nicht! Es gibt gute und schlechte Lagen, gute und schlechte Jahrgänge. Und solche Unterschiede sind für den Konsumenten ja auch sehr wichtig. Denken Sie an Kaffee- und Teeverkoster – die können ja auch hervorragend dafür sorgen, dass bestimmte Qualitätsstandards gehalten werden. Bloß müssen diese Degustatoren dafür trainiert werden und keine eitlen Wichtigtuer sein.

Es bleiben aber immer Menschen, die einen Wein verkosten, aber man kann die individuellen Abweichungen möglichst minimieren.Gerhard Roth

Schenkt man den gleichen Wein aus zwei verschiedenen Flaschen aus, erhält man überraschend unterschiedliche Beschreibungen. Das führt zur Annahme, dass ein Wein, bevor er getrunken wird, noch gar keinen Geschmack hat.

Der Geschmack entsteht aus wahrnehmungspsychologischer Sicht tatsächlich erst im Gehirn, ebenso wie die Farbe, der Wohlklang oder die Schönheit. Da sind Voreingenommenheit und Irrtumsmöglichkeiten, wie gesagt, manchmal grotesk. Aber die Forschung hat seit Jahrhunderten und mit einigem Erfolg versucht, Wahrnehmungen zu standardisieren und zu objektivieren. Wir kämpfen gegen die Beeinflussung durch Vorerwartungen und Vorerfahrungen an!

Was nicht ganz einfach zu sein scheint. Sie schreiben ja auch, dass komplexe Wahrnehmungen meist konstruiert und deshalb oft trügerisch seien. Was bedeutet das?

Unser wichtigstes Sinnesorgan ist das Gedächtnis. In ihm steckt unsere gesamte Erfahrung. Wir sehen und verstehen die Welt immer durch die Augen unserer persönlichen Erfahrung, und deshalb lebt jeder Mensch erst einmal in seiner ganz privaten Wahrnehmungswelt. Deren Grenzen kann man allerdings teilweise überwinden. Aber es ist eben ein schwieriges Geschäft, Erfahrungen intersubjektiv zu machen.

Wie würden Sie es denn bei einer Weinbeurteilung anstellen? 

Die geschmackliche Wahrnehmung und Beurteilung des Weines wird durch meine Vorerfahrungen bestimmt. Dazu gehört auch das, was ich gerade vorher getrunken oder gerochen habe. Man muss die Bedingungen standardisieren. Eine Beurteilung lässt sich hinreichend, wenngleich nicht vollständig objektivieren, indem man nur diejenigen Erfahrungen darin eingehen lässt, die alle beteiligten Prüfer teilen.

Machen da Weinführer und ähnliches überhaupt noch Sinn?

Viele solche Publikationen sind stark interessegeleitet, aus Wichtigtuerei oder aus kommerziellen Beweggründen. Es wäre interessant, objektivere Weinführer anzubieten – vielleicht gibt es sie ja sogar. Leider höre ich aber immer nur von spektakulären Fehlentscheidungen so genannter Experten, wenn sie nicht gewusst haben, welchen Wein sie vor sich hatten. Für Kunstexperten gilt übrigens das Gleiche – das sind in aller Regel Wichtigtuer, wie die jüngsten Skandale zeigen.

Sie selbst sind Weinliebhaber. Was ist für Sie ein guter Wein?

Ein Rotwein muss für mich einen kräftigen und vollen Geschmack haben, wie das bei vielen Bordeaux vorkommt. Barolo dagegen dünkt mich meist zu schwer und zu herb. Und die Burgunder sind mir zu weich. Was ich sehr schätze, sind reifere Chiantis.

Gerhard Roth (*1942) gründete 1989 das Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen. Er hat sowohl einen Doktortitel in Philosophie als auch in Zoologie und ist Verfasser von über 200 Werken auf den Gebieten der kognitiven Neurowissenschaften, Persönlichkeitsforschung und Neurophilosophie. 2009 erschien bei Suhrkamp sein Buch »Aus Sicht des Gehirns« in einer überarbeiteten Fassung; darin beschreibt Roth erfreulich anschaulich wie unsere Bewusstseinswelt entsteht. Eine beinahe verpflichtende Lektüre, für jeden, der sich mit der eigenen Wahrnehmung auseinandersetzt – und als Weinliebhaber tut man das ja eigentlich ständig.

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