DAS WUNDER VON NIEDERKIRCHEN

Foto Weingut Reinhardt

DAS WUNDER VON NIEDERKIRCHEN

Gleich neben Deidesheim entsteht eine neue Winzer-Avantgarde fast im Verborgenen. Ihre Weine lassen aufhorchen.

Wo sich tagsüber der landwirtschaftliche Transit über eine zu breite Hauptstraße mit Fußsteigen so schmal wie Klebeband schiebt, die Häuser zu unscheinbaren Verschlusssachen werden, liegt Niederkirchen. So ungastlich und verlassen, man wähnt sich in Rheinhessen. Mitten in der Pfalz. Deidesheim mit seinen Bassermanns, von Buhls und von Winnings ist gleich nebenan. Mondän, aufgehübscht, ausgebucht. Ist das eine unter all den anderen gewöhnlichen Häusern erstmal gefunden, wird einem bereitwillig die Tür aufgetan. Nein, um den nächsten Bibelkurs der Zeugen Jehovas gehe es einem nicht. Und verkaufen wolle man natürlich auch nichts. Unversehens findet man sich in einem Wohn- und Esszimmer wieder. In dem sitzt ein junger Mann an einem Esszimmertisch und, genau: isst. Er heißt Gabriel Scheuermann. Ob man etwas probieren möchte, fragt er. Gerne, antwortet man, und kommt der Sache schon näher. Ein süßer, aber eben nicht pappsüßer 2016er Riesling Kabinett. Dem letzten seiner Art von uns, sagt er, und dass der ganz anders sei als der vom Jonas. Nicht so schlank und nicht so stinkig. Eben mehr ein typischer Pfälzer. Eigenständig ist er allemal.

Der neugierige Zecher hat Lunte gerochen

Jonas heißt mit Nachnamen Seckinger und lebt nur wenige hundert Meter weiter die Straße hinauf. Auch sein Zuhause ist unscheinbar. Wer es nicht ansteuert, wird nicht zufällig vorbeikommen. Und vermutlich ist das auch so gewollt. Denn es dürften mittlerweile schon zu viele kommen. Der neugierige Zecher hat Lunte gerochen. Über die Weine der beiden Jungwinzer Gabriel Scheuermann und Jonas Seckinger wird in letzter Zeit häufig gesprochen. Beide haben Brüder. Gemeinsam sind sie mit Feuereifer dabei. Bei der Sache mit dem Wein. Den sie nicht revolutionieren, aber nach ihren Vorstellungen an- und ausbauen wollen. Doch wer will und sagt das nicht?

Fotos Seckinger, Fußer, Scheuermann, Reinhardt

Was sie eint, ist eine ebenso kompromisslose wie entspannte Einstellung zu ihrer Arbeit. Und das ist schon ziemlich erstaunlich, denn fast alle sind in erst ihren Zwanzigern. Und in einem gottverlassenen Nest namens Niederkirchen. Gleich neben dem gediegenen Deidesheim entsteht eine neue Winzer-Avantgarde fast im Verborgenen. Wo Niederkirchen aufhört und die Weinfelder beginnen, versteckt sich das Weingut Fußer. Auch hier sind zwei Brüder am Werke. Martin und Georg Fußer. Mit dem letzten Hof im Ort waren sie die ersten, deren Weine auch überregional für Aufmerksamkeit sorgten. Was nicht an ihrer Story liegt, weil sie es geschafft haben ihren Vater, dem Entwickler eines Botrytizids, von einer biodynamischen Wirtschaftsweise zu überzeugen, sondern an ihrer unpretiösen Art und ihrem Bekenntnis zu herkunftsgeprägten Weinen.

Spannung im Glas geht auch anders

Und vielleicht beginnt genau hier die Niederkirchner Avantgarde, weil sie Wein und Herkunft radikaler denkt. Die Biodynamie ist dabei nur ein Teil des Ganzen. Fußers sind zertifiziert, alle anderen nehmen jene Praktiken in ihrer biologischen Arbeit auf, die sie für richtig halten. Die Niederkirchner Avantgarde lässt ein Ganzes entstehen, ohne es konkreter zu definieren oder sich definieren zu lassen, ist mehr patenter Begleiter als resoluter Macher. Trial and Error gehören da unbedingt dazu. Die Regel ist das nicht in einer Region, deren Weine immer vorhersehbarer geworden sind. Daran ist nichts Schlechtes. Spannung im Glas geht aber auch anders. Und es muss am Ende auch um den Spaß bei der Sache gehen, anders lässt sich diese Euphoriewelle, die da gerade von Niederkirchen über die deutsche Weinwelt rollt, auch nicht erklären. Wer die Brüder kennenlernt, wird das schnell erkennen. Unverkrampfte, weltoffene und patente junge Menschen, denen der Stoff in der Flasche wichtiger ist als eine Vinothek mit Carrara-Marmor-Boden und Vintage-Kronleuchter an der Decke. Leisten könnten sie sich die womöglich.

Da ließe sich meckernd einwenden, dass diese Gören doch nichts Besseres zu tun hätten, als ihrem Hobby mit ein paar spleenigen Projekt-Weinen zu frönen, die wirtschaftlich letztlich aber überhaupt keine Rolle spielen.

Foto Weingut Scheuermann

Denn was sie zusätzlich eint, ist, dass alle aus Betrieben kommen, die bis heute einen guten Teil ihrer Trauben oder ihren Fasswein verkaufen. Für gutes Geld. Zu ihren Kunden zählt die Hautevolee der Pfälzer Winzerschaft. Da ließe sich meckernd einwenden, dass diese Gören doch nichts Besseres zu tun hätten, als ihrem Hobby mit ein paar spleenigen Projekt-Weinen zu frönen, die wirtschaftlich letztlich aber überhaupt keine Rolle spielen. Und vielleicht stimmt das hier und da sogar. Andererseits gäbe es dann aber auch keinen triftigen Grund für sie, sich aus ihrer Komfortzone herauszubewegen. Keine 30 Jahre alt, gibt es sicherlich Spannenderes in der Welt zu erleben, als stundenlang Wasser zu dynamisieren oder sich auf Weinmessen die Füße platt zu stehen.

Parkers Chefverkoster für Deutschland besitzt kein Weingut in der Pfalz

Gleich gegenüber von den Fußers hat Lukas Reinhardt gemeinsam mit seiner Schwester Anna Reinhardt-Weisbrodt vor kurzem die Verantwortung für den elterlichen Betrieb übernommen. Den Vornamen ihres Vaters Stefan, der das Weingut als Trauben- und Fassweinerzeuger erst 1987 gründete, bekommt man auf den modern gestalteten Etiketten des Geschwisterpaars nun nicht mehr zu lesen. Aus dem Weingut Stefan Reinhardt ist das Weinwerk Reinhardt geworden. Und vielleicht ist dann auch ein für alle Mal Schluss mit dem Missverständnis, dass Parkers Chefverkoster für Deutschland neben seiner Tätigkeit als Kritiker auch ein Weingut in der Pfalz besitzt.

Denn es sind schon zwei Paar Schuhe, Fasswein zu verkaufen und seinen eigenen Sekt und Wein zu erzeugen.

 

Foto Weingut Reinhardt

Reinhardts Weine sind klar und präzise. Dass er als Fassweinlieferant für eines der bekanntesten Wein- und Sektgüter der Pfalz ein feines Händchen für Schäumer besitzt, mag auf den ersten Blick fast selbstverständlich sein. Doch es sind schon zwei Paar Schuhe, Fasswein zu verkaufen und seinen eigenen Sekt zu erzeugen. Reinhardt ist der ruhigste Avantgardist in Niederkirchen, vielleicht auch der vorsichtigste, wenn er bei seinem Stil stets auch die Kundschaft im Auge behält, die seine Weine nicht nur einmal kaufen soll. Für die baut er nun auch eine Vinothek. Auch darin unterscheidet er sich von den anderen.

Im gleichen Maße wie das Aroma-Korsett der Weine immer enger wurde, wuchs auch der Einfluss von Chemie und Technik

Die Außenwirkung ist ihm wichtig. Es ist in diesen Tagen viel vom Weglassen die Rede: Grobe oder gar keine Mostklärung, Spontanvergärung, weniger oder gar keinen Schwefel, Vollhefelager und so weiter. Dass derart bereitete Weine nicht nur trinkbar, sondern delikat geraten können, galt bis vor gar nicht so langer Zeit als undenkbar. Im gleichen Maße wie das Aroma-Korsett der Weine immer enger wurde, wuchs auch der Einfluss von Chemie und Technik. Bis sie erst nicht mehr hinterfragt und danach selbstverständlich wurden. Freilich steht die Avantgarde aus Niederkirchen nicht allein da, wenn es darum geht, Wein anders, nämlich natürlicher zu denken.

In Niederkirchen konzentriert sie sich, weil der Ort klein und ihre Anhängerschaft verhältnismäßig gewaltig ist.

Foto Weingut Seckinger

Eine gewisse Bewegung ist derzeit im ganzen Weinland zu spüren. In Niederkirchen konzentriert sie sich, weil der Ort klein und ihre Anhängerschaft verhältnismäßig gewaltig ist. Weil sich dort eine Handvoll junge Winzer zusammengetan hat, die sich das nicht nur leisten kann, sondern auch will – auch antun will. Unsereins wird dann etwa mit einem 2017 Chardonnay »R« von Jonas und Philipp Seckinger beschenkt, der in Sachen Aromaspektrum ein neues, spannendes Kapitel aufschlägt: Im gebrauchten Barrique spontan vergoren und ungeschwefelt abgefüllt, ist den beiden da ein Wein gelungen, dessen formidable Würze ans Jura denken lässt. Um eine schnöde Kopie ging es den Seckingers dabei freilich nicht. Die wäre ohnehin genauso unmöglich, wie dieser Chardonnay seine Pfälzer Herkunft verleugnen kann. Hinken tut der Jura-Vergleich dennoch nicht, was auch daran liegt, dass da eine Winzergeneration auf der Matte steht, die sich ohne Scheuklappen durch die Weinwelt probiert.

Seine formidable Würze lässt ans Jura denken

»Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht«, war gestern. Stattdessen lautet die Parole: »Probieren geht über Studieren – ein Studium schadet aber auch nicht.« Simon und Gabriel Scheuermann eilt schon jetzt der Ruf ausgezeichneter Schaumweine voraus. Die ganzen Spätburgunder- und Chardonnay-Trauben für ihren delikaten 2016 Blanc et Noir verbrachten rund sechs Stunden auf der Kelter, bevor lediglich der Klarlauf spontan zum Grundwein vergoren und schließlich als brut nature degorgiert wurde. Derart hefewürzig und strafffruchtig ist der, dass aromatische Parallelen sofort im Glas liegen. Doch wieder geht es nicht um eine Kopie, die, wenn sie dann doch einmal gewollt war, immer nur schlechter ausfallen kann als das Original. Über den unverschämten Preis für dieses wunderbare Getränk hüllen wir an dieser Stelle den Mantel des Schweigens, müssen allerdings anmerken, dass die Jungs die Messlatte in der Perlen-Liga bereits gewaltig hoch aufgelegt haben. Unter Druck lassen sie sich nicht setzen. Der 2016er ist bereits ausverkauft.

Foto Weingut Scheuermann

Da muss sich die geneigte Kundschaft eben gedulden, bis die nächste Charge irgendwann im Herbst soweit ist. In der Zwischenzeit lässt es sich an ihrem 2015er Orange »Anima« gütlich tun, der nach zehn Wochen auf der Maische und anderthalb Jahren in gebrauchten Fässern gerade in den Verkauf gekommen ist. Dass der sich anders, aber ebenso widerstandslos wie ihr Sekt trinken lässt, verdankt er jener Portion Gerbstoff, von der Weine dieser Art oft zu viel haben und dadurch sperrig schmecken können. Warum Orange-Weine mitunter für zu speziell gehalten werden, nur punktuell und gerne in skandinavischen Szene-Restaurants zu lebenden Waldameisen zum Einsatz kommen, hat auch damit zu tun.

Und wieder ist es ein Chardonnay

Dass es anders geht, stellt der »Anima« vorzüglich unter Beweis. Und wieder ist es ein Chardonnay. Eine Sorte, deren Weine ihren Erfolg hierzulande einst mit schlechten Neue Welt-Kopien aus Vanillin, Süßstoff und Puddingsäure begründeten. Auch da hat sich eine Menge getan. Seiner Vielgestaltigkeit bewusst geworden, werden nun seine Möglichkeiten auch in hiesigen Gefilden ausgelotet. Dem Terroir, dem Wein auf die Spur zu kommen, bedeutet auch, die Warnhinweise auf den Beipackzetteln einfach mal zu ignorieren: »ABC – anything but Chardonnay« ist heute ein unnützer Spruch, der zu einer Zeit en vogue war, als der Chardonnay zum Synonym für aromatische Gleichschaltung mutierte und weltweite Erfolge feierte. Er tut das immer noch. Aber nicht mehr allein.

Foto Weingut Seckinger

Nun könnte man meinen, die Niederkirchner Avantgarde hat sich allein dem intellektuell gehypten Wein für intellektuelle Hipster verschrieben. Das mag sich (aus dramaturgischen Gründen) bis hierhin auch zuweilen so gelesen haben, richtiger wird es dadurch aber dennoch nicht. Riesling ist und wird auch in Zukunft ihre wichtigste Sorte bleiben. Mit Paradiesgarten, Reiterpfad, Maushöhle oder Hohenmorgen sind sie im Besitz wertvoller Parzellen in bedeutenden Lagen. Wenn sie meinen, dass ein Wein noch seine Zeit braucht, dann geben sie sie ihm. Im Weinberg und im Keller. Die Fußer-Brüder etwa brachten ihren 2015er »No.1« aus dem Ruppertsberger Reiterpfad erst zwei Jahre nach der Lese unter die Leute.

Der Wein sorgte bei so manchen vermeintlichen Fachleuten für Irritationen

Seckingers vergären ihre Moste spontan und quasi ohne Vorklärung, was den natürlichen Hefen ein größeres Angebot an Nährstoffen bietet. Wenn solche Weine dann doch mal in der Gärung stecken bleiben, nehmen die Brüder das in Kauf. Diebische Freude kam nicht nur bei den Seckingers auf, als ihnen mit dem 2016er ein moselanisch pikant-süßer Kabinett aus der Deidesheimer Maushöhle gelang. Der Wein sorgte bei so manchen vermeintlichen Fachleuten für Irritationen. Die Avantgarde kann manchmal radikal sein. Aber so ist ihr Wesen nun mal.

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