AUS DEM AUGE IN DEN SINN

AUS DEM AUGE IN DEN SINN

Niemand hat bis heute den Beweis erbracht, ob es Objektivität überhaupt gibt. Wie realistisch ist die Realität? Ein altkluger Einwurf

»Jetzt sei doch mal realistisch« oder »Du musst die Sache objektiv betrachten.« Menschen, die mir solcherlei entgegenschmeißen, sind mir zunächst einmal suspekt. Unter dem Deckmantel von Objektivität oder Realität wollen sie mir ihre Meinung unterjubeln. Perfide. Die Realität ist eine verflixte Angelegenheit. Denn niemand hat bisher den Beweis erbracht, ob es die überhaupt gibt. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass es eine von der menschlichen Erfahrung unabhängige Welt gibt. Geht ja auch schlecht. Obwohl uns das immer vorgegaukelt wird. Ich rate zu steten Zweifeln. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Alles was wir wahrnehmen, hängt von uns ab. Von unseren Erfahrungen, von unserer Physiologie.

Eher kleingewachsen und gerne auch launisch veranlagt (soviel Selbstkritik muss sein), kann ich die Dinge eben nur so wahrnehmen, wie ich sie wahrzunehmen imstande bin. Wir sind gewissermaßen also alle immer eingeschränkt. Man kommt halt nicht heraus aus seiner eigenen Haut. Vor ein paar Monaten beobachtete ich im Wald eine Ameise, die eine gleichgroße (und mindestens auch gleichschwere) Tannennadel über Stock und Stein, vor allem aber über einen dichten Teppich aus ebensolchen Tannennadeln buckelte.

Irgendwann verlor ich das Insekt aus den Augen, doch ich konnte davon ausgehen, dass sich auch an seinem Ziel reichlich dieser Nadeln fanden, die sich in Form und Größe nicht wesentlich von denen unterschieden, die es mit sich herumschleppte. Wenigstens nicht aus meiner Perspektive. Die Ameise jedoch wird ihre guten Gründe gehabt haben, weshalb sie sich gerade für jene eine entschied, hatte sie doch eine mutmaßlich anstrengende Expedition mit dem klitzekleinen Gehölz unternommen. Ein Ameisenhaufen, schloss ich in empathischer Erschöpfung, ist ein hochkomplexes Gebilde, und jede einzelne Nadel darin quasi sechsbeinig verlesen.

Ein Ameisenhaufen, schloss ich in empathischer Erschöpfung, ist ein hochkomplexes Gebilde, und jede einzelne Nadel darin quasi sechsbeinig verlesen. Realität ist halt immer auch Ansichtssache.

                         Illustration Roland Pecher

Realität ist halt immer auch Ansichtssache. So ist das nun einmal. Im letzten Sommer gedachte ein Freund von mir seinen Urlaub in Südfrankreich zu verbringen. Statt sich an den hiesigen Weinen gütlich zu tun, belud er seinen Kofferraum vor seiner Abreise mit feinstem Riesling Kabinett von der Mosel. Weil der so leichtgewichtig und beschwingt daherkommt, gilt er hierzulande als Erfrischung schlechthin. Ganz schön gewieft also, sich damit zu bestücken, wenn am Urlaubsort die Sonne tobt. Im Mediterran angekommen, stöhnte er aber nicht schlecht, denn der Wein trug zu seinem Labsal überhaupt nicht bei, schmeckte ihm gar abscheulich süß.

Er ließ schnell schweißgebadet von ihm ab und löschte seinen Durst bis zum letzten Urlaubstag mit lokalen Tropfen. Die hatten zwar weitaus mehr Umdrehungen, schmeckten ihm aber deutlich besser. Alles eine Frage der Perspektive. Man könnte sogar sagen, dass wir in einer fortwährenden Illusion leben. Gehen wir baden, wenn es draußen warm ist, kommt uns das Wasser kälter vor als umgekehrt. Die Wetterschau versorgt uns mit tatsächlichen und gefühlten Temperaturen. Wen das nicht irritiert, ist ein Ignorant. Wer in einem Zug sitzt, während sich auf dem Nebengleis ein anderer in Bewegung setzt, ist sich einen kurzen Moment sicher, es wäre sein Abteil, das da gerade Fahrt aufnimmt.

Und der Riesling meines Freundes wird seine Inhaltsstoffe auf der Reise in den Süden auch nicht verändert haben. Dass er nun anders schmeckte, lag nicht am Wein, sondern an seinem Zecher. Und so ist das immer. Illusion und Wahrnehmung sind nicht voneinander zu unterscheiden. Alles was danach kommt, sind zeitgeistige Interpretationen. Da muss man jetzt einfach mal realistisch sein.

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