ILLUSION
Schwere Weine haben es schwer in diesen Tagen, manchmal zu Recht, oft auch zu Unrecht
So eine Alkoholangabe kann ja zuweilen für Angst und Schrecken sorgen, wenn die etwa bei einem Weißwein mit über 14 Volumen Prozent droht. Da bleibt ein guter Teil des Weingenusses womöglich schon auf der Strecke, bevor die Flasche überhaupt geöffnet ist. In Zeiten, da scheinbar nur was mit Low beginnt, zu Genuss mit gutem Gewissen führt, haben es Weine schwer, die ihre Kraft eben auch in reichlich Alkohol ausdrücken. Der Klimaerwärmung zum Trotz sind hierzulande aber gerade trockene Weine mit weniger Alkohol en vogue. Weiße und Rote. Das ist wahrlich keine schlechte Sache, zumal solche Weine wunderbar unter Beweis stellen können, dass es gar nicht übermäßig viel Alkohol für einen schmackhaften Wein braucht. Mit Schlankheits- oder Jugendwahn hat das gar nicht unbedingt zu tun. Worauf es maßgeblich ankommt, sind die Inhaltsstoffe, von denen schon mal 1000 verschiedene zusammenkommen können und für den unverwechselbaren Charakter eines Weines sorgen. Wenn der Alkohol in der Regel auch ihren Löwenanteil ausmacht, so hat er geschmacklich vergleichsweise wenig zu melden, denn er funktioniert gewissermaßen nur als Geschmacksträger.
Wenn der Alkohol nichts zu tragen hat, schmeckt der Wein auch nach so gut wie nichts
Wenn er nichts zu tragen hat, schmeckt der Wein nämlich auch nach so gut wie nichts, schlimmstenfalls aber säuerlich und dünn oder brandig und scharf. Ein delikater Wein benötigt unter anderem Säuren, Extrakt, Zucker, Mineral- und Gerbstoffe in wohldosierten Proportionen, die indes gehören nicht zu den obligatorischen Angaben auf einem Etikett. Den Geschmack eines Weines von seiner Alkoholgradation abzuleiten, ist also rundweg falsch. Eigentlich sollte man von der erstmal besser gar nichts wissen, denn diese Information allein kann bereits für ein Geschmäckle sorgen, wenn Weine mit weniger Alkohol dann gerne frisch und leicht, und diejenigen mit mehr Umdrehungen genau gegensätzlich schnell müde und schwer schmecken.
Beim 2015er »RS« Grauburgunder Kirchberg vom Weingut Schätzle wird das zu erstaunlichen Ergebnissen führen, wenn sich die Wissenden mit dem Wein vermutlich schwerer tun werden als die Unwissenden
Ist da etwas Wahres dran? Das lässt sich leicht nachprüfen, wenn man beim gleichen Wein einmal den Alkoholgehalt nennt und ein anders Mal nicht. Beim 2015er »RS« Grauburgunder Kirchberg vom Weingut Schätzle wird das zu erstaunlichen Ergebnissen führen, wenn sich die Wissenden mit dem Wein vermutlich schwerer tun werden als die Unwissenden. 14,5 Volumen Prozent vor Augen können nämlich einen gravierenden Einfluss auf den Geschmack haben, obwohl sie mit dem Geschmack dieses Weines gar nicht hauptsächlich zu tun haben, denn diejenigen, die davon nicht wissen, werden viel eher seine frische Säure und kraftvolle Mineralik loben. Balanciert in Säure und Phenolen, reich an Mineral und Extrakt, steht der Alkohol bei diesem Grauburgunder beileibe nicht im Vordergrund, sondern wirkt im Gegenteil bestens integriert.
Den Geschmack eines Weines von seiner Alkoholgradation abzuleiten, ist rundweg falsch
Wie Geschmack ganz schnell auch Illusion sein kann, belegt er jedenfalls bravourös, und er würde es nicht tun, wenn er aus Trauben bestünde, die zwar reich an Zucker, aber arm an Reife gewesen wären. In solchen Fällen kann dann selbst die Unkenntnis um den Alkoholgehalt nichts mehr beim Geschmack ausrichten, der schlicht und eben alkoholisch zurückbleibt. Der Gegenversuch mit einem leichtgewichtigen Weißwein schmeckt zwar anders, bringt aber die gleiche Erkenntnis: Mit weniger Vorurteilen im Kopf schmeckt man am Ende vielleicht nicht besser, aber begegnet dem Wein im Kelch unbefangener, und ist sich dabei nebenbei auch stets seiner Beeinflussbarkeit bewusst. Das ist beim Weintrinken durchaus kein Nachteil. Und sonst auch nicht.
Fotos Weingut Schätzle